
Das jüngste Reflexionspapier der EU-Kommission will die Widerstandsfähigkeit der Eurozone erhöhen. – © pixabay.com
29.06.2017
Kommentar: Brückenschlagen, statt einander misstrauen
Die Widerstandsfähigkeit der Eurozone soll erhöht werden. Die EU-Kommission geht in ihren Plänen weiter als erwartet.
Im letzten Jahrzehnt ist die erwartete Konvergenz der EU-Länder nicht im erhofften Ausmaß eingetreten. Das jüngste Papier der EU-Kommission zur Zukunft der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion setzt nun auf eine deutlich tiefere Integration. Das wird freilich auf Widerstand stoßen - und dennoch kann es funktionieren.
Im jüngsten Reflexionspapier zur Zukunft der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) setzt die Europäische Kommission deutlich auf eine tiefere Integration, um die Widerstandsfähigkeit der Eurozone und damit auch der EU zu erhöhen. Die präsentierten Vorschläge gehen weiter als erwartet: auch wegen der Wahl von Emmanuel Macron zum französischen Präsidenten, die den Spielraum für weitere Integrationsschritte erweitert hat. Denn Macron wird als starker Vertreter einer stärkeren Kooperation auf EU-Ebene und somit als Gegengewicht zur eher zurückhaltenden deutschen Haltung gesehen.
Das Papier beginnt mit einer klaren Diagnose. Im letzten Jahrzehnt sei die erwartete Konvergenz der EU-Länder nicht im erhofften Ausmaß eingetreten. Niedrige Investitionsquoten und geringe Produktivitätssteigerungsraten der Rezessionsjahre gefährdeten mit einer weiteren Polarisierung die EU. Auch müssten die Probleme im Finanz- und Bankensektor bewältigt und der Nexus zu den öffentlichen Finanzen beseitigt werden.
Steuerungsmechanismus fehlt
Der Bericht bietet daher sowohl kurzfristige Empfehlungen zur Verbesserung der bestehenden Elemente der WWU als auch grundlegende Überlegungen zur Eurozonen-Architektur. Einige der kurzfristigen Empfehlungen, wie ein europäisches Einlagenversicherungssystem sowie der Ausbau der Banken- und Kapitalmarktunion, werden von vielen Seiten als notwendig angesehen und sollten daher bald umsetzbar sein.
Die schwierigste Debatte ist allerdings mit der wichtigsten Frage einer makroökonomischen Stabilisierungsfunktion für die Eurozone verbunden. Eine solche Funktion hatte schon der Bericht der fünf Präsidenten von 2015 erwogen. Allerdings gehen die Ansichten, wie weit sie gehen sollte, auseinander.
Jedenfalls ist aber das Fehlen eines Mechanismus zur Steuerung der Gesamtnachfrage, wenn die Geldpolitik an ihre Grenzen stößt, makroökonomisch suboptimal. Wie renommierte Währungsunion-Experten unterstreicht das Reflexionspapier daher den Bedarf nach einer gemeinsamen Eurozonen-Fiskalpolitik.
Deren Gegner betonen, dass sie der Disziplin schade, die für Strukturreformen und die Befolgung gemeinsamer Regeln erforderlich ist. Allerdings betrachten immer mehr Ökonomen das geltende Regelwerk besonders jenes durch den Fiskalpakt festgeschriebene als suboptimal in einer Rezession. Denn es verlange genau mitten im Abschwung rezessionsverschärfende Konsolidierungsmaßnahmen. Das Papier stellt daher eine Regelung zum Schutz der öffentlichen Investitionen während eines Abschwungs und eine europäische Arbeitslosenversicherung als Eurozonen-weite Stabilisatoren zur Diskussion.
Gemeinsame Anleihen
Weiters wird die Einführung einer mit US-Staatsanleihen vergleichbaren sicheren Anleihe für das gesamte Euro-Währungsgebiet oft als vorteilhaft gesehen. Sie bewirke eine Diversifizierung der Vermögenswerte von Banken (und somit eine Verringerung der Präferenz für heimische Staatsanleihen) und reduziere die Marktvolatilität verschuldeter Länder. Um Eigenverantwortung nicht durch Risikoteilung zu gefährden, werden gemeinsame Anleihen wie die momentan diskutierten European Safety Bonds ohne gesamtschuldnerische Haftung vorgeschlagen. Für eine Einigung fehlt jedoch noch der politische Kompromiss.
Diese bedenkenswerten Vorschläge werden aber auch laut EU-Kommission selbst nicht ausreichen, um nach einem künftigen Schock das Wachstum wieder in Gang zu bringen. Hierfür wäre eine gemeinsame Fiskalpolitikinstitution erforderlich. So hätte in den letzten Jahren eine aktive expansive Fiskalpolitik in den Kernländern Europas, die über Budgetspielräume verfügen, einen positiven Effekt auch für die Peripherieländer gehabt. Die Anreize dazu sind für nationale politische Entscheidungsträger aber gering, wenn sich wie in Deutschland die Wirtschaft ohnehin gut entwickelt.
Der vorsichtige Vorschlag eines Eurozonen-Finanzministeriums zur Vertretung des allgemeinen Eurozonen-Interesses erscheint daher durchaus diskussionswürdig. Ein Eurozonen-Finanzminister müsste aber im Vergleich zur Eurogruppe deutlich mehr demokratische Rechenschaftspflicht haben. Denn im Unterschied zur Geldpolitik sind Fiskalfragen oft politische Entscheidungen und sollten deshalb demokratisch bestimmt werden.
Fraglich bleibt aber, wie viel ein Eurozonen-Finanzministerium zur Krisenbewältigung beitragen könnte, wenn es nicht über ein höheres Budget (im Vergleich etwa zum jetzigen EU-Budget von einem Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung) verfügt.
Koordinierte Steuerpolitik
Ein Mangel des Papiers ist die nur kurze Erwähnung der sich herausbildenden europäischen Säule sozialer Rechte. Diese und die damit verbundenen Mindeststandards wären ein wichtiger Fortschritt, um Europa wieder populär zu machen. Zudem könnten Mindeststandards die bisher begrenzte Konvergenz vorantreiben, sie sollten aber in ein gemeinsames Konzept für die Zukunft der Wirtschaftsunion eingebettet werden.
Ansonsten stieße der beabsichtigte Versuch einer stärkeren Koordination der Steuerpolitik auf Widerstände. Denn die mittel- und osteuropäischen Länder werden ohne Gegenleistung nicht auf den Unterbietungswettbewerb in der Unternehmensbesteuerung verzichten, den sie als eines der wenigen Instrumente zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit betrachten. Auch die seit längerem für Diskussionen sorgenden Handelsbilanzungleichgewichte werden ausgeblendet: Dabei sehen viele Ökonomen die großen Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands als ein Problem für den Rest der EU, das eines der wichtigsten Konvergenzhindernisse darstellt.
Trotz aller noch zu erwartenden Schwierigkeiten auf dem Weg zur Vollendung der WWU gibt der Bericht aber einen hoffnungsfrohen Ausblick, wenn er feststellt: Es ist an der Zeit, Pragmatismus über Dogmatismus zu stellen und Brücken zu schlagen, statt einander zu misstrauen.
Dieser Text ist zuerst als Gastkommentar in der "Presse" erschienen.
Das Papier beginnt mit einer klaren Diagnose. Im letzten Jahrzehnt sei die erwartete Konvergenz der EU-Länder nicht im erhofften Ausmaß eingetreten. Niedrige Investitionsquoten und geringe Produktivitätssteigerungsraten der Rezessionsjahre gefährdeten mit einer weiteren Polarisierung die EU. Auch müssten die Probleme im Finanz- und Bankensektor bewältigt und der Nexus zu den öffentlichen Finanzen beseitigt werden.
Steuerungsmechanismus fehlt
Der Bericht bietet daher sowohl kurzfristige Empfehlungen zur Verbesserung der bestehenden Elemente der WWU als auch grundlegende Überlegungen zur Eurozonen-Architektur. Einige der kurzfristigen Empfehlungen, wie ein europäisches Einlagenversicherungssystem sowie der Ausbau der Banken- und Kapitalmarktunion, werden von vielen Seiten als notwendig angesehen und sollten daher bald umsetzbar sein.
Die schwierigste Debatte ist allerdings mit der wichtigsten Frage einer makroökonomischen Stabilisierungsfunktion für die Eurozone verbunden. Eine solche Funktion hatte schon der Bericht der fünf Präsidenten von 2015 erwogen. Allerdings gehen die Ansichten, wie weit sie gehen sollte, auseinander.
Jedenfalls ist aber das Fehlen eines Mechanismus zur Steuerung der Gesamtnachfrage, wenn die Geldpolitik an ihre Grenzen stößt, makroökonomisch suboptimal. Wie renommierte Währungsunion-Experten unterstreicht das Reflexionspapier daher den Bedarf nach einer gemeinsamen Eurozonen-Fiskalpolitik.
Deren Gegner betonen, dass sie der Disziplin schade, die für Strukturreformen und die Befolgung gemeinsamer Regeln erforderlich ist. Allerdings betrachten immer mehr Ökonomen das geltende Regelwerk besonders jenes durch den Fiskalpakt festgeschriebene als suboptimal in einer Rezession. Denn es verlange genau mitten im Abschwung rezessionsverschärfende Konsolidierungsmaßnahmen. Das Papier stellt daher eine Regelung zum Schutz der öffentlichen Investitionen während eines Abschwungs und eine europäische Arbeitslosenversicherung als Eurozonen-weite Stabilisatoren zur Diskussion.
Gemeinsame Anleihen
Weiters wird die Einführung einer mit US-Staatsanleihen vergleichbaren sicheren Anleihe für das gesamte Euro-Währungsgebiet oft als vorteilhaft gesehen. Sie bewirke eine Diversifizierung der Vermögenswerte von Banken (und somit eine Verringerung der Präferenz für heimische Staatsanleihen) und reduziere die Marktvolatilität verschuldeter Länder. Um Eigenverantwortung nicht durch Risikoteilung zu gefährden, werden gemeinsame Anleihen wie die momentan diskutierten European Safety Bonds ohne gesamtschuldnerische Haftung vorgeschlagen. Für eine Einigung fehlt jedoch noch der politische Kompromiss.
Diese bedenkenswerten Vorschläge werden aber auch laut EU-Kommission selbst nicht ausreichen, um nach einem künftigen Schock das Wachstum wieder in Gang zu bringen. Hierfür wäre eine gemeinsame Fiskalpolitikinstitution erforderlich. So hätte in den letzten Jahren eine aktive expansive Fiskalpolitik in den Kernländern Europas, die über Budgetspielräume verfügen, einen positiven Effekt auch für die Peripherieländer gehabt. Die Anreize dazu sind für nationale politische Entscheidungsträger aber gering, wenn sich wie in Deutschland die Wirtschaft ohnehin gut entwickelt.
Der vorsichtige Vorschlag eines Eurozonen-Finanzministeriums zur Vertretung des allgemeinen Eurozonen-Interesses erscheint daher durchaus diskussionswürdig. Ein Eurozonen-Finanzminister müsste aber im Vergleich zur Eurogruppe deutlich mehr demokratische Rechenschaftspflicht haben. Denn im Unterschied zur Geldpolitik sind Fiskalfragen oft politische Entscheidungen und sollten deshalb demokratisch bestimmt werden.
Fraglich bleibt aber, wie viel ein Eurozonen-Finanzministerium zur Krisenbewältigung beitragen könnte, wenn es nicht über ein höheres Budget (im Vergleich etwa zum jetzigen EU-Budget von einem Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung) verfügt.
Koordinierte Steuerpolitik
Ein Mangel des Papiers ist die nur kurze Erwähnung der sich herausbildenden europäischen Säule sozialer Rechte. Diese und die damit verbundenen Mindeststandards wären ein wichtiger Fortschritt, um Europa wieder populär zu machen. Zudem könnten Mindeststandards die bisher begrenzte Konvergenz vorantreiben, sie sollten aber in ein gemeinsames Konzept für die Zukunft der Wirtschaftsunion eingebettet werden.
Ansonsten stieße der beabsichtigte Versuch einer stärkeren Koordination der Steuerpolitik auf Widerstände. Denn die mittel- und osteuropäischen Länder werden ohne Gegenleistung nicht auf den Unterbietungswettbewerb in der Unternehmensbesteuerung verzichten, den sie als eines der wenigen Instrumente zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit betrachten. Auch die seit längerem für Diskussionen sorgenden Handelsbilanzungleichgewichte werden ausgeblendet: Dabei sehen viele Ökonomen die großen Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands als ein Problem für den Rest der EU, das eines der wichtigsten Konvergenzhindernisse darstellt.
Trotz aller noch zu erwartenden Schwierigkeiten auf dem Weg zur Vollendung der WWU gibt der Bericht aber einen hoffnungsfrohen Ausblick, wenn er feststellt: Es ist an der Zeit, Pragmatismus über Dogmatismus zu stellen und Brücken zu schlagen, statt einander zu misstrauen.
Dieser Text ist zuerst als Gastkommentar in der "Presse" erschienen.
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