19.06.2019

Warum wir dringend eine Euro-Reform brauchen

"Presse"-Kommentar und Policy Brief von WIFO-Ökonom Atanas Pekanov
Alle EU-Länder profitieren vom Euro. Dennoch scheiterte bisher jeder Versuch, die Währungsunion für die nächste Krise zu wappnen. Der aktuelle Budgetkonflikt zwischen Rom und Brüssel, Arbeitslose in den Peripherieländern, unzufriedene Sparerinnen und Sparer in den Kernländern – die Währungsunion hat die Wirtschaftskrise zwar überlebt, aber die tiefen Verwundungen sind nicht verheilt. Lösungsvorschläge gab es in den letzten beiden Jahren genug, doch sie alle scheiterten an der mangelnden Kompromissbereitschaft.

Der Kommentar von Atanas Pekanov ist am 12. Juni 2019 in der Tageszeitung "Die Presse" erschienen: https://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/5643201/Warum-wir-dringend-eine-Euroreform-brauchen.

Obwohl die Finanzkrise in den USA ihren Ursprung genommen hat, erholte sich die amerikanische Wirtschaft wesentlich schneller als die europäische. Durch den engen Zusammenhang zwischen Staatsfinanzen und dem Bankensystem erhöhte sich im Euro-Raum die Unsicherheit auf den Finanzmärkten. Das trug zu einer Verschlechterung der allgemeinen Konjunktur bei. Als die Geldpolitik ihr Krisenbekämpfungsarsenal schon aufgebraucht hatte, wurde die Zurückhaltung in der Fiskalpolitik zum Zankapfel. Während Krisenländer die fiskalpolitischen Möglichkeiten aktiver nutzen wollten, sahen die Überschussländer im Norden keine Notwendigkeit dafür.

Als einzig funktionierender Rettungsschirm erwies sich die Europäische Zentralbank (EZB). Sie beruhigte mit ihrer expansiven Geldpolitik die Finanzmärkte, und die Konjunktur erholte sich langsam. Allerdings kann die komplette Last nicht allein auf die EZB übertragen werden. Zukünftige Krisen könnten derart dramatisch verlaufen, dass sie sich nicht mehr mit Zinssenkungen überbrücken lassen. Zudem besteht die Gefahr von landesspezifischen Konjunkturschocks, auf die eine gemeinsame Geldpolitik nicht reagieren kann.

Nach schmerzhaften Jahren befand sich die europäische Wirtschaft 2018 im Aufschwung. Nun galt es endlich, "das Dach zu reparieren, solange die Sonne scheint" – sprich, sich auf Reformen zu einigen, um den nötigen fiskalischen Spielraum für zukünftige Krisen sicherzustellen – sowie die Staatsfinanzen und Banken gegen Ansteckungseffekte zu immunisieren. Für den französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, lag die Lösung in einer Vertiefung der Wirtschaftsintegration, wogegen sich Deutschland und andere Länder vehement wehrten.

Risikoteilung vs. Marktdisziplin

In der Wissenschaft ist daraus eine intensive Debatte zwischen zwei Ansätzen entstanden: mehr Marktdisziplin versus mehr Risikoteilung. Das erste Lager ist der Meinung, dass die Fiskalregeln strenger durchgesetzt werden sollten, um Spielraum für schlechte Zeiten zu schaffen. Im zweiten Lager ist man wiederum der Auffassung, dass ohne begrenzte gemeinsame Fiskalmechanismen künftige makroökonomische Schocks nicht zu überwinden sind. Diese beiden Zugänge müssen sich allerdings nicht unbedingt widersprechen. Das zeigen etwa die USA. Dort gibt es sowohl eine vollständige Kapitalmarktunion für mehr marktbasierte Risikoteilung als auch ein gemeinsames Bundesbudget, sprich Fiskaltransfers zwischen den Staaten.

Im Versuch, einen Kompromiss zu finden, haben sich im Jänner 2018 insgesamt 14 deutsche und französische Ökonominnen und Ökonomen auf eine Diagnose und sechs wichtige Reformen geeinigt. Um den Teufelskreis zwischen Bankensystem und Staatsfinanzen zu vermeiden, sollte eine EU-weite europäische Anleihe geschaffen werden. Bei diesen gemeinsamen Anleihen sollte durch Teilung in sichere und weniger sichere Teile jede Art von gemeinsamer Haftung zwischen den Ländern ausgeschlossen sein. Frühere Ausarbeitungen von Euroanleihen mit gemeinsamer Haftung scheiterten am fehlenden politischen Konsens. Eine sichere europäische Anleihe könnte die unerwünschte Volatilität auf dem Markt für Staatsanleihen verringern. Die Sinnhaftigkeit solcher Anleihen ohne eine gemeinsame Haftung wird allerdings von einigen Expertinnen und Experten bezweifelt.

Laut Expertinnen und Experten sind die Fiskalregeln prozyklisch und hätten zu politischen Spannungen geführt, ohne die Schulden effizient zu reduzieren. Sie sollten daher transparenter und fokussierter werden. Eine Option dafür sei eine einfache Ausgabenregel, welche aber aus mehreren Gründen auch kritisiert wurde. Für Situationen, in denen die EZB-Politik sowie die nationalen Spielräume nicht ausreichen, sollte ein kleiner EU-weiter Fiskalmechanismus geschaffen werden.

Die Weiterentwicklung der Banken- und der Kapitalmarktunion ist eine der wenigen Reforminitiativen mit relativ breitem Konsens. Die Vollendung des europäischen Bankenmarktes setzt aber eine europäische Einlagensicherung voraus. Würden die Spareinlagen im Süden und Norden durch diese Einlagensicherung ähnliche Sicherheit aufweisen, würde sich das Risiko nationaler Bankenkrisen und der Kapitalflucht verringern. Viele Länder wollen bis zur Umsetzung allerdings darauf warten, dass das Niveau der faulen Kredite sinkt und sich das Risiko zwischen den Ländern angleicht.

Die Europäische Kommission lancierte auch zwei Reformpakete. Diese beinhalteten einen ersten Versuch, ein kleines Eurozonen-Budget für makroökonomische Stabilisierung sowie wettbewerbs- und konvergenzfördernde Reformen zu schaffen. Daran anknüpfend schlug auch der Internationale Währungsfonds Maßnahmen vor: IWF-Chefin Christine Lagarde präsentierte einen Vorschlag für einen milliardenschweren "Euro-Schlechtwetterfonds", um Krisen zu bekämpfen.

Euro-Schlechtwetterfonds

Diese Vorschläge sorgen für intensive Debatten, wobei die Optimierung der Fiskalregeln nach wie vor den größten Streitpunkt darstellt. Während der Rezession hätte eine Kombination aus Strukturreformen und Fiskalstimulus in Italien wohl die Wirtschaftslage verbessert – dafür hätte es aber lockerere, nicht strengere Fiskalregeln gebraucht. Dadurch wäre heute nicht nur der Euro-Raum krisenfester aufgestellt, es gäbe auch weniger Rückhalt in der italienischen Bevölkerung für die offensichtlich unvernünftigen Pläne der jetzigen Regierung.

Obwohl im Juni 2018 Frankreich und Deutschland ihre Bereitschaft für Reformen betonten, fokussierten sich diese bisher jedoch hauptsächlich auf die Banken- und Kapitalmarktunion. Ein "Euro-Budget zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz" wurde vorgeschlagen – und sollte Ende Juni 2019 endlich genehmigt werden, während ein Stabilisierungsmechanismus für die Arbeitslosigkeit weiter "geprüft" werden sollte. Seitdem haben sich jedoch mehrere Länder gegen jegliche Art von Stabilisierungsfunktion ausgesprochen. Wegen der Turbulenzen in Italien ist nun auch das gemeinsame Einlagensicherungssystem vom Tisch.

All diese Diskussionen stießen auf mangelnde Kompromissbereitschaft der politischen Entscheidungsträger und ‑trägerinnen, und es ist zu einem Stillstand gekommen. Es ist jedoch höchste Zeit für einen Kompromiss. Die Politik muss sich dieser wichtigen Aufgabe widmen und notwendige Reformen durchziehen. Das sind keine technokratischen Ziele, sondern politische Notwendigkeiten für eine EU, die Sicherheit und Wohlstand ihrer Bürgerinnen und Bürger schützen soll.