Das vernachlässigte Massensparen

16.09.2019

Gastkommentar von Gunther Tichy in der Tageszeitung "Die Presse"

WIFO Emeritus Consultant Gunther Tichy schreibt in seinem Gastkommentar in der Tageszeitung "Die Presse" vom 16. September 2019 über die wirtschaftspolitischen Folgen zunehmender Intermediation.

Öffentlichkeit, Politik und Medien beklagen das derzeit niedrige Zinsniveau und machen die expansive Geldpolitik der Zentralbanken, das vielzitierte Quantitative Easing, dafür verantwortlich. Tatsächlich resultieren laut Tichy die "Nullzinsen" jedoch daraus, dass die Ersparnisse in Österreich, wie auch in Europa und Südostasien, merklich höher sind als der Finanzierungsbedarf; die Geldpolitik verstärkte zwar den daraus resultierenden Druck auf die Zinssätze, doch bloß geringfügig.

Die Sparüberschüsse sind überwiegend Folge des Massensparens, das die Konsumnachfrage tendenziell dämpft, bei zugleich stagnierender Nachfrage nach Finanzierungsmitteln. Der Finanzbedarf schrumpft, weil die Wirtschaft bloß langsam wächst und Verschuldung generell als problematisch angesehen wird: Die öffentliche Hand bemüht sich ihre Verschuldung zu reduzieren, und die Unternehmen verschulden sich kaum, zahlen vielfach sogar Kredite zurück, weil sie angesichts des gedämpften Wachstums wenig investieren, wofür der Cash-Flow zur Finanzierung ausreicht. Das über den Finanzierungsbedarf hinausgehende Angebot an Ersparnissen (Sparüberschuss) drückt nicht bloß die Zinssätze, sondern zwingt auch zur Anlage der überschüssigen Mittel im Ausland, ein Phänomen, das vor allem in Deutschland, in geringerem Maß auch in Österreich, zunehmend Probleme aufwirft.

Den Kommentar in kompletter Länge finden Sie hier.

Der Kommentar erschien im Rahmen des "Ökonomischen Blicks", bei dem die "Nationalökonomische Gesellschaft" in Kooperation mit der "Presse" jeden Montag aktuelle Themen aus der Sicht von Ökonomen und Ökonominnen präsentiert.
 

Publikationen

Das vernachlässigte Massensparen. Die wirtschaftspolitischen Folgen zunehmender Intermediation (The Neglected Mass Saving. The Economic Consequences of Increasing Intermediation)
WIFO-Monatsberichte, 2019, 92(8), S.583-597
Online seit: 23.08.2019 0:00
 
Das gegenwärtig niedrige Zinsniveau ergibt sich vor allem daraus, dass die Sparpläne in Europa und Südostasien die Investitionspläne übertreffen; die expansive Geldpolitik verstärkte diesen Trend nur etwas. Die Sparüberschüsse sind primär Folge des Massensparens, das den Konsum tendenziell dämpft und zur Intermediation durch den Kreditapparat zwingt; dabei entstehen zwangsläufig Probleme der Fristen- und Risikentransformation sowie der Verschuldung. Sie tragen zur Instabilität des Systems bei. Durch Massensparen bedingte Sparüberschüsse traten bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf, wurden aber durch Kriege und Inflation beseitigt, bevor sie ernstere Probleme aufwerfen konnten. Spätestens seit dem Jahr 2000 dämpfen die Sparüberschüsse jedoch Konsum und Wachstum; die Verschuldungsbereitschaft der Wirtschaft ist angesichts der geringen Wachstumsraten begrenzt, und die Staatsverschuldung wird tendenziell eingedämmt. Daran dürfte sich in absehbarer Zukunft wenig ändern. Der Beitrag zeigt die Problematik anhand der österreichischen Entwicklung der letzten 180 Jahre und diskutiert Lösungsansätze.
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Univ.-Prof. i.R. Dr. Gunther Tichy

Funktion: Emeritus Consultant
© Tim Evans/Unsplash
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