Österreicher kaum privat gegen Berufsunfähigkeit versichert
Besonders interessant ist eine private Berufsunfähigkeitsversicherung für junge, gut ausgebildete Personen, denen potentiell eine große Karriere bevorsteht, z. B. Akademiker und Akademikerinnen oder technische Fachkräfte, sagte der Versicherungsexperte Thomas Url, einer der Autoren der Studie des Wirtschaftsforschungsinstitutes (WIFO), im APA-Gespräch: "Gerade für diese Berufsgruppen steigt im Falle einer Berufsunfähigkeit die Einkommenslücke im Schnitt von 30% auf 50%." Denn die staatliche Absicherung über die verpflichtende Sozialversicherung berücksichtigt für die Pensionsberechnung nur das aktuelle Einkommen, nicht aber die künftige Karriere: "Es wird so getan, als bliebe das Einkommen für den Rest des Lebens gleich." So gesehen, ist das Produkt auch für Aufsteiger und Aufsteigerinnen in anderen Berufen interessant.
Im Durchschnitt verlieren 25-jährige Männer im Risikofall ohne Versicherung je nach Beruf ein Drittel bis etwas mehr als die Hälfte ihres künftig noch zu erwartenden Nettolebenseinkommens. Bei Frauen ist es weniger als ein Drittel bzw. höchstens etwas weniger als die Hälfte ihres Lebenseinkommens. Mit steigendem Lebensalter nimmt die Einkommenslücke durch eine Berufsunfähigkeit langsam ab im Alter von 60 Jahren schwankt sie bei Männern zwischen 6% und 10%, bei Frauen wegen der höheren Lebenserwartung (weil sie ihre Pension länger bekommen) zwischen 8% und 11%, erläutert Url.
Private Versicherer können das Risiko einer Berufsunfähigkeit bzw. die gegenüber der staatlichen Abdeckung verbleibende Lücke recht günstig abdecken, weil die Eintrittswahrscheinlichkeit sehr gering sei, betont Url. Bei 25-Jährigen sei nur eine von 10.000 Personen von einer Berufsunfähigkeit betroffen, bei 45-Jährigen 14 von 10.000 und bei 60-Jährigen 110 von 10.000. Für die Gruppe der 25-Jährigen müssten somit 10.000 Personen zusammen nur einen Risikofall finanzieren, rechnet der Experte vor, "es handelt sich also um ein eher seltenes Risiko mit potentiell hohem Schaden, das nur teilweise durch eine öffentliche Versicherung gedeckt ist".
Das vorhandene Angebot der privaten Assekuranz für eine Berufsunfähigkeitspension scheine den Erwerbstätigen nicht in vollem Umfang bekannt zu sein. Die Studienautoren Thomas Url und Serguei Kaniovski sind überzeugt, dass die Höhe der potentiellen Einkommensverluste für risikoscheue Personen einen ausreichend hohen Anreiz zum Kauf eines solchen Produktes erzeugen sollte. Viele Menschen würden aber etwa eine Polizze für nicht leistbar halten, eine falsche Wahrnehmung des Risikos oder überhöhte Erwartungen in die Leistungen der öffentlichen Berufsunfähigkeitsversicherung haben. Auch bei Naturkatastrophen werde das Risiko oft nicht richtig eingeschätzt, sagt Url.
Mit einem reinen "Vorsorgesparen", also dem Zur-Seite-Legen von Ersparnissen, kann das Risiko der Berufsunfähigkeit individuell jedenfalls nur schwer abgesichert werden, sagen die beiden Experten. Denn besonders in jungen Jahren würde dies "einen in der Praxis unmöglich hohen Sparbetrag erfordern". Denn selbst bei Vorliegen der staatlichen Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitsversicherung würden 25-Jährige in Berufsgruppen mit "flachem Lebenseinkommensprofil" mehr als ein Drittel ihres erwarteten Nettolebenseinkommens individuell angespart haben müssen, um den Einkommensverlust aus der Berufsunfähigkeit voll abzusichern. Für 25-Jährige in akademischen Berufsgruppen wären es sogar 50% des Nettolebenseinkommens. Daher ist Sparen als Absicherung gegen Risiken mit kleiner Eintrittswahrscheinlichkeit und hohem Schaden unattraktiv.
Gemeinsam mit der Dread-Disease-Versicherung stagniert die private Berufsunfähigkeitsversicherung. Die Zahl der versicherten Risiken ist in den vergangenen Jahren nur wenig gewachsen. 2017 wurde aus Berufsunfähigkeitsversicherungen 29 Mio. an Prämien eingenommen verteilt auf rund 60.000 Verträge, was im Schnitt 500 Jahresprämie bedeutet. Im Jahr davor waren es 22 Mio. an Prämieneinnahmen aus 43.000 versicherten Risiken. Die Versicherungssumme wuchs zuletzt von 2 auf 2,4 Mrd. . Im Schnitt liegen die Versicherungssummen bei 40.000 , obwohl einem 45-Jährigen laut der Studie im Durchschnitt 170.000 Nettoeinkommensverlust drohen.
Den leichten Anstieg der Vertragszahl in den vergangenen Jahren führt Url auf das Bestreben der Assekuranz zurück, stärker Risikoprodukte auf den Markt zu bringen, nachdem sich klassische Sparprodukte einschließlich Fonds- und Indexpolizzen nicht mehr so gut verkaufen würden: "Deshalb versucht die Branche stärker auf Berufsunfähigkeit und Pflege auszuweichen."
Die artverwandten Dread-Disease-Versicherungen brachten in Österreich zuletzt 88 Mio. Prämie im Jahr ein, die Zahl der Polizzen sinkt aber seit Jahren, zuletzt waren es nur noch 89.000. Wesentlicher Unterschied zur Berufsunfähigkeit ist, dass eine Dread-Disease-Polizze bereits bei Diagnose eines bestimmten Krankheitsbildes (z. B. Krebs) auszahlt, ungeachtet ob jemand dadurch arbeitsunfähig wird oder nicht es kann also auch Geld zusätzlich zu einem Aktiveinkommen fließen.
Während Versicherungsnehmer mit dem Erwerb einer Polizze zögern und sich unterversichern, weil sie ihr persönliches Risiko schwer abschätzen können und bei einem Versicherungsabschluss auch Verwaltungs- und Vermittlungskosten anfallen, kämpft die Assekuranz mit dem Phänomen der "asymmetrischen Informationslage zwischen Anbietern und Nachfragern". "Der Versicherte weiß über sich selbst immer besser Bescheid als die Versicherung", meint Url. Das gelte besonders in der Kranken‑, Unfall‑ oder Lebensversicherung. Aus der ungleichen Informationslage entstehen dann die bekannten Effekte des "moralischen Risiko" und der "Negativselektion". Im ersten Fall stellen Versicherte eher einen Antrag auf Bezug einer Berufsunfähigkeitspension, obwohl sie ohne Versicherungsschutz weiter erwerbstätig bleiben würden und bei Negativselektion schließen tendenziell riskantere Personen (z. B. gesundheitlich vorbelastete) einen Versicherungsvertrag ab. Eine negative Auslese lässt sich jedoch durch gestaffelte Selbstbehalte und eine restriktive Zeichnungspolitik gut überwinden, so die Studie, die im Auftrag des Versicherungsverbandes Österreichs erstellt wurde.