20. Jänner 2006 Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell Karl AigingerDie wirtschaftliche Bilanz Europas für die letzten zehn bis fünfzehn Jahren fällt enttäuschend aus. Das Wachstum ist niedriger als in der Vergangenheit und in den USA. Die hohe Dynamik der Weltwirtschaft in den Jahren 2004 bis 2006 kann in Europa nicht voll genützt werden. Die Konsequenzen zeigen sich deutlich auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote liegt bei 7,9% (EU 15) bzw. 8,7% (EU 25), die Zahl der Arbeitslosen bei 14 Mio. (EU 15, 2005; EU 25 19 Mio.) und das, obwohl Europa einen relativ arbeitsintensiven Wachstumspfad gewählt hat. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu den Erfolgen früherer Integrationsschritte, die zur Folge hatten, dass Europa einen erheblichen Teil seines Produktivitätsrückstands gegenüber den USA aufgeholt hat. Und sie steht im Gegensatz zur Erwartung, dass die Intensivierung des Binnenmarktes, die Einführung der gemeinsamen Währung und die Erweiterung der EU zusätzliches Wachstum und Beschäftigung bringen würden. Dennoch ist als gesichert anzusehen, dass Europa ohne europäische Integration noch schlechter dastünde und Österreich ohne Mitgliedschaft ein geringeres Wachstum, höhere Inflation und eine um 50.000 Personen höhere Arbeitslosigkeit (niedrigere Beschäftigung) hätte. Die unbefriedigende Entwicklung hat einerseits von außen (von Seiten der USA, aber auch der internationalen Organisationen) zur Kritik an den unflexiblen Strukturen, den hohen Sozialleistungen, den hohen Staatsquoten und den regulierten Arbeitsmärkten Europas geführt. Im Gegensatz dazu werden in Europa besonders von der Arbeitnehmerseite, aber auch von weiten Teilen der Bevölkerung die mangelnde soziale Komponente der europäischen Politik (im EU-Vertrag, aber auch in den nationalen Politiken), das Überwiegen der Wirtschaftsinteressen, die verringerte makroökonomische Steuerung, die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung als Ursachen für die aus Wachstums- und Beschäftigungssicht nicht befriedigende Situation angeführt. Die Ablehnung der Verfassung und die niedrigen Zustimmungswerte zum Projekt Europa sind allgemein und in Österreich im besonderen wahrscheinlich primär auf die Verschlechterung der Arbeitsmarktlage zurückzuführen. Die Wirtschaftspolitik in Europa beruht auf drei Säulen: der Binnenmarktpolitik, der gesamtwirtschaftlichen Steuerung und der Forcierung von Technologie und mittelfristigem Wachstum. Die Binnenmarktpolitik soll nationale Monopole und Grenzen beseitigen, einen gemeinsamen Markt schaffen, auf dem 460 Millionen Menschen Waren und Dienstleistungen in größerer Vielfalt und zu niedrigen Preisen kaufen können und Unternehmen weltweit konkurrenzfähiger und erfolgreicher werden. Zur Binnenmarktpolitik gehört eigentlich auch die Freizügigkeit sie umfasst ja die vier Freiheiten (Kapital, Arbeit, Dienstleistungen, Waren). Langfristig ist von dieser Linie eine Steigerung von Wachstum und Beschäftigung zu erwarten, kurzfristig sind die Beschäftigungsverluste oft größer, schneller und deutlicher fühlbar. Die zweite Linie die makroökonomische Steuerung soll Konjunkturschwankungen ausgleichen, Inflation verhindern, die Verschuldung des Staates und die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen herstellen. Mittelfristig kann sie eher wachstumsfreundlich oder eher preisstabilisierend ausgeführt werden, Instrumente sind öffentliche Haushalte und Zinssätze. Der langfristige Wachstumspfad ist von der Höhe und Qualität der Forschung, der Ausbildung, der Weiterbildung, der Diffusion von Technologien und der modernen Infrastruktur abhängig (dritte Linie der Wirtschaftspolitik). In der europäischen Wirtschaftspolitik überwog in den letzten zehn Jahren die Binnenmarktpolitik, im Bereich der makroökonomische Steuerung wurde die restriktive Variante gewählt (u. a. zur Beseitigung zweistelliger Defizite und eines Schuldenstandes in einigen Ländern, der die jährliche Wirtschaftsleistung überstieg, letztlich auch zur Schaffung einer gemeinsamen Währung und der Etablierung des Rufs der Europäischen Zentralbank als stabilitätsorientiert). Die Forcierung von Technologie und Wachstum wurde zwar in der Lissabonstrategie angesprochen, aber immer wieder hinter andere Ziele und Aktivitäten zurückgestellt. Die tatsächlich gewählte Kombination der drei Linien erklärt einen Teil des europäischen Wachstumsproblems. Sozialpolitik und Regulierungen des Arbeitsmarktes fallen größtenteils in die nationale Kompetenz. Die Europäische Union versucht, Arbeitsmärkte über Beschäftigungsziele und die offene Koordinierung von Nationalen Beschäftigungsplänen sowie zusätzlich über Programme der europäischen Sozial- und Strukturfonds zu beeinflussen. Die Zielvorgaben für Beschäftigungsquoten von Frauen, ältere Personen, für Qualifizierungen und lebenslanges Lernen, für die Integration von Migranten, Minderheiten und Problemgruppen, für regional rückständige Gebiete haben die nationalen Politiken bereichert, kommen aber in ihrem Stellenwert nicht den drei wirtschaftpolitischen Hauptlinien gleich. Die mangelnde Flexibilität der europäischen Arbeitsmärkte ist für die wirtschaftliche Dynamik und eine rasche Reaktion auf neue Chancen kein Vorteil. Internationale Vergleich zeigen allerdings auch, dass die Flexibilisierung allein keinen Beschäftigungseffekt mit sich bringt, wenn die übrigen Komponenten der Wirtschaftspolitik nicht unterstützend eingreifen. Flexibilisierung kann die Wirtschaftsleistung erhöhen, wenn sie in einem stabilen wirtschaftspolitischen Rahmen, in einer dynamischen Wirtschaft erfolgt. Mikroökonomischer Wandel braucht makroökonomische (Nachfrage-)Stabilität, Dynamik und Vertrauen. Flexibilität ist dann ein Vorteil, wenn ihre Gewinne geteilt werden, wenn sie die Bedürfnisse der Unternehmen und der Arbeitnehmerseite berücksichtigt. Sie erleichtert den Übergang zwischen Arbeitsmärkten und Berufen, zwischen Teilzeit und Vollzeit, zwischen Beschäftigung und Ausbildung, zwischen Phasen der Nichterwerbstätigkeit allgemein (zur Übernahme von Betreuungspflichten, Aus- und Weiterbildung . . .) und der Erwerbstätigkeit, sie befähigt Unternehmen, rasch auf Marktchancen zu reagieren. Versuche einer "ausbalancierten" und "innovativen" Flexibilisierung werden unter der Strategie "Flexicurity" zusammengefasst. Der erste Teil des Wortes betont die zunehmende Flexibilität vor allem auf der Unternehmensebene, der zweite Teil die Sicherheit vor allem für die Arbeitnehmerseite. Diese Sicherheit umfasst eine hohe Einkommensersatzrate bei Arbeitsplatzverlust, aber auch die Chancen zur Höherqualifikation und die professionelle Unterstützung bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist weltweit der ausgefeilteste Versuch, die Effizienz des Marktes mit sozialen Aspekten und teilweise auch mit ökologischen Zielsetzungen zu verbinden. Die Gesellschaft übernimmt eine hohe Verantwortung für die Wohlfahrt der Mitglieder, sichert sie gegen Risken der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und des Alters ab. Die Arbeitsmärkte unterliegen gut ausformulierten Regeln, die Übernahme unternehmerischer Verantwortung ist an Bedingungen und Bewilligungen geknüpft, es gibt Mitbestimmung auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene. Der Staatsanteil an der Wirtschaftsleistung und die Steuerquote sind in Europa höher als in anderen Regionen, und weder die Staatsquote noch die Abgabenquote (Steuerquote) oder die Sozialquote sind im Bereich der EU 15 heute niedriger als 1990. Das europäische Modell entspricht der Vorstellung, dass Wachstum, Effizienz und Konkurrenzfähigkeit zwar eine Vorbedingung für Wohlfahrt sind, Wohlfahrt aber nicht nur durch Einkommen, rein individuelle und materielle Ziele definiert ist, soziale Absicherung und Kohärenz und Vollbeschäftigung ebenso wie eine intakte Umwelt jedenfalls auch wichtig sind. Innerhalb Europas zeigen die skandinavischen Länder in den letzten Jahren am ehesten, wie ein europäisches Modell auch in einer globalisierten Wirtschaft möglich ist. Schweden, Dänemark und Finnland erhalten den Wohlfahrtsstaat im Kern (sogar in einer umfassenderen und egalitäreren Form als kontinentale Länder), flexibilisieren aber die Märkte mit Symmetrie, Augenmaß und einem intakten Sicherheitsnetz und verstärken Ausbildung, Weiterbildung und Technologieeinsatz. Sie erreichen diese Position bei ausgeglichenen Budgets und nach Erfahrungen oftmaliger Krisen. Die europäische Wirtschaftspolitik hat teilweise auf die schwache Entwicklung reagiert, indem sie den Stabilitätspakt gelockert und das Wachstumsziel stärker betont hat. Sie hat die Lissabonstrategie in die nationale Kompetenz gestellt und die Dienstleistungsrichtlinie zwecks Überarbeitung zurückgestellt. Dennoch waren diese Reformen noch zu wenig oder stehen erst am Beginn. Die Hauptstrategie Europas auf europäischer wie auf nationaler Ebene muss es sein, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Bei einem Wachstum von 2% gibt es keine Chance auf ein Sinken der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig befriedigendem, die Konkurrenzfähigkeit gewährleistenden Produktivitätsanstieg. Dies gilt besonders für Länder, in denen das Arbeitskräfteangebot steigt (wie in Österreich). Sekundär soll eine Feinsteuerung der Arbeitsmärkte in Richtung besserer Kombination von Flexibilität und Absicherung angestrebt werden. Für die Forcierung des Wachstumszieles wäre erstens eine Infrastrukturoffensive etwa im Bereich der Transeuropäischen Projekte notwendig. Zweitens muss die Lissabonstrategie forciert werden. Hier liegen die nationalen Pläne vor, sie müssen bewertet werden und in ihrem Anspruchsniveau wie auch ihrer Durchführung noch durch eine europäische Initiative und Koordination verstärkt werden. Ein bloßes Benchmarking ist zu wenig, wenn sich zeigt, dass die Summe der derzeitigen Pläne nicht zur Zielerreichung ausreicht. Die Qualität der Budgets könnte in Richtung Wachstumswirksamkeit verbessert werden. In der makroökonomischen Steuerung sollte angesichts der geringen Inflation der letzten Jahre zur Kenntnis genommen werden, dass die Verfehlung der Wachstumsziele und eines hohen Beschäftigungsstandes heute die größere Gefahr ist. Die EZB kann dies heute leicht tun, weil sie den Ruf einer strengen Hüterin der Preisstabilität erworben hat und der Euro sehr stark ist. Die Binnenmarktstrategie muss fortgesetzt werden. Die damit kurzfristig entstehenden Nachteile u. a. durch Freizügigkeit der Arbeitnehmerseite sollen mitberücksichtigt und der Erhöhung der Mindeststandards im Sozialbereich (und im Umweltbereich) mehr Bedeutung zugemessen werden. Die Chancen der Flexibilisierung sollen genützt, die Gewinne geteilt, die Rechte der Personen, denen Flexibilität zugemutet wird, gestärkt werden, Sozialleistungen sollen mit flexiblen Verträgen verbunden werden. Mikroökonomische Flexibilität kann besser erreicht werden in einem Klima der Partnerschaft sowie bei stabilisierender und wachstumsfreundlicher Wirtschaftspolitik. Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist unter diesen Bedingungen kein Hindernis für den Wirtschaftserfolg, sondern kann eine Produktivkraft sein. Und die Vorteile der Mitgliedschaft Österreichs in der EU, die schon jetzt errechenbar sind, werden dann klarer zu erkennen sein.
Der Vortrag anlässlich der ÖGB-Betriebsrätekonferenz in Villach, 20. Jänner 2006, im Volltext: http://publikationen.wifo.ac.at/pls/wifosite/wifosite.wifo_search.get_abstract_type?p_language=1&pubid=25934
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