25. April 1996 Wirtschaftstendenzen in der Europäischen Union 1995. Konjunkturschwäche hemmt Abbau überhöhter Budgetdefizite Georg BuschNach Währungsturbulenzen im Frühjahr 1995 geriet der Konjunkturaufschwung in Westeuropa ins Stocken, gegen Jahresende kam das Wirtschaftswachstum zum Stillstand. Trotz überwiegend günstiger Rahmenbedingungen trübten sich Geschäfts- und Konsumklima ein, am stärksten in den Ländern mit harter Währung. Das Abflauen von Nachfrage und Produktion, verbunden mit einem neuerlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, erschwert die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. In der überwiegenden Zahl der EU-Länder liegen die Kenngrößen noch deutlich über den fiskalpolitischen Kriterien für die Währungsunion. Merklich größer ist der Konvergenzfortschritt hinsichtlich der Preisstabilität. Im Rückblick erweist sich der Verlauf der Konjunktur in Westeuropa im Jahr 1995 als enttäuschend. Nachdem die Rezession 1992/93 überwunden war, Nachfrage und Produktion sich im Jahresverlauf 1994 zunehmend gefestigt und in den EU-Ländern ein Wachstum von durchschnittlich 2¾% erreicht hatten, wurde allgemein mit einer weiteren Beschleunigung des Aufschwungs auf breiterer Basis gerechnet. Dafür schien nicht nur das übliche Konjunkturmuster, sondern auch eine Reihe günstiger Rahmenbedingungen zu sprechen. Statt dessen verlor das Wachstum bereits ab dem Frühjahr 1995 deutlich an Schwung, und gegen Jahresende schrumpfte das reale Brutto-Inlandsprodukt (im saisonbereinigten Quartalsverlauf in einigen Mitgliedstaaten. Im Jahresdurchschnitt 1995 dürfte die Wirtschaftsleistung in der EU – nach ersten Schätzungen – um kaum 2½% gestiegen sein. Die höchsten Zuwachsraten erzielten Irland und Finnland mit jeweils rund 5%, um weniger als 2% stieg das BIP in Deutschland, Belgien und Österreich sowie in Griechenland. Die Ursachen für das frühe Ende des Konjunkturaufschwungs scheinen bisher nicht hinreichend geklärt. Immerhin können einige Umstände und Entwicklungen genannt werden, welche die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern dämpften und die Risken in der Zukunftsplanung der Unternehmen erhöhten:
Stärkerer Wettbewerbs- und Kostendruck veranlaßt viele Unternehmen, auch bei sinkender Nachfrage und Kapazitätsauslastung auf ihre Ertragskraft zu achten und das Potential für Rationalisierung und Produktivitätsgewinne auch kurzfristig auszuschöpfen. Die Rezession 1993 war daher mit vergleichsweise hohen Beschäftigungseinbußen verbunden. EU-weit gingen von 1992 bis 1994 4½ Mill. Arbeitsplätze verloren. Mit der Belebung der gesamtwirtschaftlichen Produktion begann im Laufe des Jahres 1994 auch die Beschäftigung – erstmals seit drei Jahren – zu steigen (im Jahresdurchschnitt nahm sie gleichwohl noch um rund ½ Mill. bzw. 0,4% ab). Sie erhöhte sich auch noch im 1. Halbjahr 1995 zögernd, nahm jedoch mit der Trübung der Konjunkturaussichten in der Folge wieder ab. Der noch im November von der EU-Kommission erwartete Nettozuwachs von 1,1 Mill. Arbeitsplätzen dürfte deutlich unterschritten worden sein. Die Arbeitslosigkeit erreichte im Frühjahr 1994 mit 11¼% der EU-Erwerbsbevölkerung einen Höchststand. Bis zum Herbst 1995 sank sie knapp unter 11% und hat seither wieder steigende Tendenz. Die höchsten Werte wurden in Spanien, Finnland, Irland (wegen der raschen Zunahme des Arbeitskräfteangebotes) sowie in Frankreich und Italien registriert. Trotz der Belebung der Konjunktur nach der vorangegangenen Rezession konnte 1994 innerhalb der EU ein deutlicher Fortschritt in Richtung Preisstabilität erzielt werden. Der Index der Verbraucherpreise fiel im Durchschnitt aller Mitgliedstaaten von 3,6% im Vorjahr auf 3%; 1995 verharrte er annähernd auf diesem Niveau. Zur Eindämmung der Inflation trug die Verlangsamung des Nachfragewachstums bei weitgehend unterausgelasteten Kapazitäten ebenso bei wie forcierte Rationalisierungsbestrebungen, gedämpfter Lohnanstieg bei steigender Arbeitslosigkeit und das Auslaufen der internationalen Rohwarenpreishausse. Laut den Maastricht-Konvergenzkriterien für die Preisstabilität darf die Inflationsrate eines Landes den Durchschnitt der drei preisstabilsten Länder 1997 um nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte überschreiten; der entsprechende Referenzwert betrug 1995 2,9%. Das Kriterium wäre im abgelaufenen Jahr bereits von 10 der 15 Mitgliedsländer erfüllt worden (mit Ausnahme von Griechenland, Spanien, Italien, Portugal und Großbritannien), drei Jahre zuvor jedoch erst von sechs dieser Länder. Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht der EU – als ein Wirtschaftsraum betrachtet – blieb 1995 gewahrt; der Leistungsbilanzüberschuß stieg von 0,4% auf 0,6% des BIP. Den höchsten Leistungsbilanzüberschuß verzeichneten 1995 Irland mit 6,6% des BIP sowie Belgien und Luxemburg mit 5,8%; Defizite mußten vor allem Griechenland und Österreich hinnehmen (jeweils 2% des BIP). Das Defizit aller öffentlichen Haushalte in den EU-Staaten stieg im Rezessionsjahr 1993 auf durchschnittlich 6,3% des BIP. 1994 konnte es auf 5,6% und 1995 auf etwa 5% verringert werden. Im Gegensatz zum Vorjahr unterstützte aber 1995 die Konjunktur den Konsolidierungsprozeß kaum. Selbst wenn der Defizitabbau nur zäh vorankam, wurden doch in einer Reihe von Ländern wichtige Reformschritte zur Strukturverbesserung gesetzt, die auf mittlere Sicht – und bei wieder besserer Konjunkturlage – deutliche und nachhaltige Erfolge erwarten lassen. Immerhin konnten 1995 11 von 15 Ländern ihr Haushaltsdefizit verringern. Verschlechtert hat sich die Budgetlage vor allem in den Hartwährungsländern Deutschland und Österreich, wo sich auch die Konjunktur am deutlichsten abschwächte. Eine Defizitquote von 3% des BIP oder weniger – wie sie dem Konvergenzkriterium des Vertrags von Maastricht entsprechen würde – erzielten 1995 nur Dänemark, Luxemburg und Irland.
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