Digitalisierung verlangt nicht nur Höherqualifizierung, sondern Umschulung

16.05.2018

In Österreich könnten künftig Jobs mit mittlerer Qualifikation verloren gehen, schreibt Forscher Gunther Tichy in einem WIFO-Monatsbericht.

Die heimische Politik rechnet damit, dass der technische Fortschritt im Allgemeinen und die Digitalisierung im Besonderen zunehmend höhere Qualifikationen erfordern. Die Polarisierungsthese stellt das in Frage: Sie geht auch von einem Ausfransen der Mitte nach unten aus.
Qualifizierte Ausbildung bildet vor dem Lichte der Herausforderungen der Digitalisierung aktuell ein zentrales Element der Arbeitsmarktstrategie. Die neuerdings vielfach diskutierte Polarisierungsthese stellt das in Frage: Die Digitalisierung erhöhe die Nachfrage sowohl nach höheren wie auch nach niedrigen Qualifikationen; mittlere und vor allem Routine-intensive würden hingegen zunehmend freigesetzt. Tatsächlich lassen sich solche Tendenzen zur Polarisierung in den USA feststellen: Der Anteil hoher und niedriger Qualifikationen an der Beschäftigung nimmt dort zu und ihre Einkommen steigen überdurchschnittlich; mittlere hingegen verlieren ihre Jobs und ihre Einkommen stagnieren oder sinken sogar.

In Europa lässt sich im Allgemeinen keine Expansion der niedrigen Qualifikationen beobachten, wohl aber eine gewisse Ausdünnung der Mitte. In Österreich findet nicht einmal diese statt: Entgegen den Analysen der OECD zeigt sich ein klarer Trend zu höheren Qualifikationen und innerhalb der Mitte eine Verschiebung von Routine- zu kognitiven Tätigkeiten; der Anteil der niedrigen Qualifikationen schrumpft – das heißt, dass niedrige Qualifikationen zur Mitte und mittlere nach oben aufsteigen. Das Ausfransen der Mitte nach unten konnte in Österreich bisher verhindert werden; ganz im Gegenteil deutet die Zunahme anspruchsvoller Tätigkeitsbereiche – bei zugleich starker Zuwanderung weniger qualifizierter Arbeitskräfte – auf eine markante Aufwärtsmobilität der ÖsterreicherInnen.

Maßgebend dafür dürften fünf spezifische Elemente sein: Die Wirtschaftsstruktur, die auf weniger leicht automatisierbaren Tätigkeiten beruht, die Heterogenität der kognitiven Routinetätigkeiten, eine stärker dezentrale Firmenorganisation mit größerer Entscheidungsfreiheit am Arbeitsplatz, eine differenzierte fachspezifische (mittlere) Berufsausbildung, aber auch ein gewisser Rückstand bei Restrukturierung, Automatisierung und Digitalisierung. Letzteres könnte bedeuten, dass in Zukunft doch Arbeitsplätze mit mittleren Qualifikationen verloren gehen könnten.

Augenmerk auf selektive Qualifizierung legen

Die österreichische Wirtschaftspolitik wird daher nicht bloß weiterhin auf Höherqualifizierung (“occupational upgrading”) drängen müssen, ein Thema das trotz der bisherigen Erfolge der berufsspezifischen Qualifizierungspolitik und trotz der eher geringen (vielfach überschätzten) Gefahr massiver Arbeitsplatzverluste durch Digitalisierung auf der Agenda der Wirtschaftspolitik bleiben muss. Es wird aber auch selektiver Qualifizierungsmaßnahmen bedürfen: So etwa zeigt der hohe Anteil der Überqualifikation im Bereich gering-qualifizierter Tätigkeiten, dass ein Bedarf an Schulungen besteht, die die Nutzung der jeweils latenten Qualifikationen ermöglicht. Soweit es sich um Immigranten handelt, wird nicht bloß eine Verbesserung der Sprachkenntnisse (vor allem Berufs-spezifischer) sondern auch die Anpassung ihrer (im Ausland erworbenen) beruflichen Kenntnisse an die österreichischen Standards erforderlich sein.

Weiters wird den manuellen Nicht-Routinetätigkeiten, die sich bisher recht gut gehalten haben, zumindest auf mittlere Sicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen. Der Nachholbedarf an Digitalisierung, Automatisierung und Rationalisierung, vor allen in öffentlicher und betrieblicher Verwaltung wie im Dienstleistungsbereich (Bank- und Versicherungswesen) wird nicht zuletzt diese Gruppe betreffen. Ihrer Umqualifizierung – primär von manuellen zu kognitiven Tätigkeiten – wird mehr Beachtung geschenkt werden müssen.

Generell muss betont werden, dass die in Theorie wie Politik beliebte Polarisierungsthese als solche bloß Teilaspekte der Entwicklung des Arbeitsmarkts erklären kann, und dass die Gefahr der Polarisierung durch Digitalisierung bloß eines der Probleme der Arbeitsmarktpolitik ist. Mindestens genauso wichtig sind die Folgen der Automatisierung auf die Qualität der Arbeitsplätze und die Verteilung.

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Univ.-Prof. i.R. Dr. Gunther Tichy

Funktion: Emeritus Consultant

Dr. Margit Schratzenstaller-Altzinger, MA

Funktion: Ökonomin (Senior Economist), Gleichstellungsbeauftragte

Publikationen

WIFO-Monatsberichte, 2018, 91(3), S.177-190
Online seit: 28.03.2018 0:00
 
Die österreichische Politik geht davon aus, dass der technische Fortschritt im Allgemeinen und die Digitalisierung im Besonderen zunehmend höhere Qualifikationen erfordern. Die Polarisierungsthese und ihre empirische Implementierung durch die OECD stellt das in Frage: Sowohl höhere als auch niedrige Qualifikationen wären gefragt, bloß mittlere würden zunehmend freigesetzt. Wie eine genauere Untersuchung zeigt, kann einerseits die Polarisierungsthese als solche nur Teilaspekte der Entwicklung des Arbeitsmarktes erklären. Andererseits kann, wie aufwendigere empirische Arbeiten ergeben, eine gewisse Polarisierung zwar in den USA nachgewiesen werden, aber nur beschränkt in Europa und gar nicht in Österreich. Hier werden generell zunehmend höhere Qualifikationen nachgefragt. Im Bereich der mittleren Qualifikationen ist allerdings eine erhebliche Umschichtung von manuellen zu kognitiven Tätigkeiten zu beobachten. Neben Höherqualifizierung wird die Politik daher auch auf Umqualifizierung achten müssen.
Die Digitalisierung führt zur Zunahme von anspruchsvollen Tätigkeiten für die Arbeitnehmer. Aber nicht nur. – © pixabay.com
Die Digitalisierung führt zur Zunahme von anspruchsvollen Tätigkeiten für die Arbeitnehmer. Aber nicht nur. – © pixabay.com