Im jüngsten Reflexionspapier zur Zukunft der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) setzt die Europäische Kommission
deutlich auf eine tiefere Integration, um die Widerstandsfähigkeit der Eurozone und damit auch der EU zu erhöhen. Die präsentierten
Vorschläge gehen weiter als erwartet: auch wegen der Wahl von Emmanuel Macron zum französischen Präsidenten, die den Spielraum
für weitere Integrationsschritte erweitert hat. Denn Macron wird als starker Vertreter einer stärkeren Kooperation auf EU-Ebene
und somit als Gegengewicht zur eher zurückhaltenden deutschen Haltung gesehen.
Das Papier beginnt mit einer klaren Diagnose. Im letzten Jahrzehnt sei die erwartete Konvergenz der EU-Länder nicht im erhofften
Ausmaß eingetreten. Niedrige Investitionsquoten und geringe Produktivitätssteigerungsraten der Rezessionsjahre gefährdeten
mit einer weiteren Polarisierung die EU. Auch müssten die Probleme im Finanz- und Bankensektor bewältigt und der Nexus zu
den öffentlichen Finanzen beseitigt werden.
Steuerungsmechanismus fehlt
Der Bericht bietet daher sowohl kurzfristige Empfehlungen zur Verbesserung der bestehenden Elemente der WWU als auch grundlegende
Überlegungen zur Eurozonen-Architektur. Einige der kurzfristigen Empfehlungen, wie ein europäisches Einlagenversicherungssystem
sowie der Ausbau der Banken- und Kapitalmarktunion, werden von vielen Seiten als notwendig angesehen und sollten daher bald
umsetzbar sein.
Die schwierigste Debatte ist allerdings mit der wichtigsten Frage einer makroökonomischen Stabilisierungsfunktion für die
Eurozone verbunden. Eine solche Funktion hatte schon der Bericht der fünf Präsidenten von 2015 erwogen. Allerdings gehen die
Ansichten, wie weit sie gehen sollte, auseinander.
Jedenfalls ist aber das Fehlen eines Mechanismus zur Steuerung der Gesamtnachfrage, wenn die Geldpolitik an ihre Grenzen stößt,
makroökonomisch suboptimal. Wie renommierte Währungsunion-Experten unterstreicht das Reflexionspapier daher den Bedarf nach
einer gemeinsamen Eurozonen-Fiskalpolitik.
Deren Gegner betonen, dass sie der Disziplin schade, die für Strukturreformen und die Befolgung gemeinsamer Regeln erforderlich
ist. Allerdings betrachten immer mehr Ökonomen das geltende Regelwerk besonders jenes durch den Fiskalpakt festgeschriebene
als suboptimal in einer Rezession. Denn es verlange genau mitten im Abschwung rezessionsverschärfende Konsolidierungsmaßnahmen.
Das Papier stellt daher eine Regelung zum Schutz der öffentlichen Investitionen während eines Abschwungs und eine europäische
Arbeitslosenversicherung als Eurozonen-weite Stabilisatoren zur Diskussion.
Gemeinsame Anleihen
Weiters wird die Einführung einer mit US-Staatsanleihen vergleichbaren sicheren Anleihe für das gesamte Euro-Währungsgebiet
oft als vorteilhaft gesehen. Sie bewirke eine Diversifizierung der Vermögenswerte von Banken (und somit eine Verringerung
der Präferenz für heimische Staatsanleihen) und reduziere die Marktvolatilität verschuldeter Länder. Um Eigenverantwortung
nicht durch Risikoteilung zu gefährden, werden gemeinsame Anleihen wie die momentan diskutierten European Safety Bonds
ohne gesamtschuldnerische Haftung vorgeschlagen. Für eine Einigung fehlt jedoch noch der politische Kompromiss.
Diese bedenkenswerten Vorschläge werden aber auch laut EU-Kommission selbst nicht ausreichen, um nach einem
künftigen Schock das Wachstum wieder in Gang zu bringen. Hierfür wäre eine gemeinsame Fiskalpolitikinstitution erforderlich.
So hätte in den letzten Jahren eine aktive expansive Fiskalpolitik in den Kernländern Europas, die über Budgetspielräume verfügen,
einen positiven Effekt auch für die Peripherieländer gehabt. Die Anreize dazu sind für nationale politische Entscheidungsträger
aber gering, wenn sich wie in Deutschland die Wirtschaft ohnehin gut entwickelt.
Der vorsichtige Vorschlag eines Eurozonen-Finanzministeriums zur Vertretung des allgemeinen Eurozonen-Interesses
erscheint daher durchaus diskussionswürdig. Ein Eurozonen-Finanzminister müsste aber im Vergleich zur Eurogruppe
deutlich mehr demokratische Rechenschaftspflicht haben. Denn im Unterschied zur Geldpolitik sind Fiskalfragen oft politische
Entscheidungen und sollten deshalb demokratisch bestimmt werden.
Fraglich bleibt aber, wie viel ein Eurozonen-Finanzministerium zur Krisenbewältigung beitragen könnte, wenn es nicht über
ein höheres Budget (im Vergleich etwa zum jetzigen EU-Budget von einem Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung) verfügt.
Koordinierte Steuerpolitik
Ein Mangel des Papiers ist die nur kurze Erwähnung der sich herausbildenden europäischen Säule sozialer Rechte. Diese und
die damit verbundenen Mindeststandards wären ein wichtiger Fortschritt, um Europa wieder populär zu machen. Zudem könnten
Mindeststandards die bisher begrenzte Konvergenz vorantreiben, sie sollten aber in ein gemeinsames Konzept für die Zukunft
der Wirtschaftsunion eingebettet werden.
Ansonsten stieße der beabsichtigte Versuch einer stärkeren Koordination der Steuerpolitik auf Widerstände. Denn die mittel-
und osteuropäischen Länder werden ohne Gegenleistung nicht auf den Unterbietungswettbewerb in der Unternehmensbesteuerung
verzichten, den sie als eines der wenigen Instrumente zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit betrachten. Auch die seit längerem
für Diskussionen sorgenden Handelsbilanzungleichgewichte werden ausgeblendet: Dabei sehen viele Ökonomen die großen Handelsbilanzüberschüsse
Deutschlands als ein Problem für den Rest der EU, das eines der wichtigsten Konvergenzhindernisse darstellt.
Trotz aller noch zu erwartenden Schwierigkeiten auf dem Weg zur Vollendung der WWU gibt der Bericht aber einen hoffnungsfrohen
Ausblick, wenn er feststellt: Es ist an der Zeit, Pragmatismus über Dogmatismus zu stellen und Brücken zu schlagen,
statt einander zu misstrauen.
Dieser Text ist zuerst als Gastkommentar in der "Presse" erschienen.